Ich habe die letzten Monate immer wieder über Privilegien nachgedacht. Und hatte eine ganze Weile etwas, was ich Privilegienscham nenne: Ich habe mich für meine immer wieder einfach geschämt.
Ja, ich bin eine Frau und falle damit immer wieder Ungerechtigkeiten zum Opfer und bin – wortwörtlich – auch ein viel leichteres Opfer als meine männlichen Artgenossen. Auch wenn ich es hasse, mich als solches anzusehen.
Abgesehen davon? Gehöre ich zu den 1 %. Den 1 % der Frauen, die sich um Geld keine zu großen Sorgen machen müssen. Den 1 % der Frauen, die dank ihrer Hautfarbe nie irgendwo diskriminiert werden. Den 1 % der Frauen, die das Glück hatten, in einem Land geboren zu sein, in dem Gesundheitsversorgung Pflicht und Recht eines jeden Bürgers ist. Den 1 % der Frauen, die nie Angst haben mussten, ohne ein Zuhause dazustehen, nichts zu essen zu haben oder sogar minderjährig in eine Ehe gezwungen worden zu sein.
Boohooo… ich bin eine privilegierte Frau und werde manchmal benachteiligt.
In der Relation zu allen Vorteilen, die ich habe und genieße, klingt das fast armselig, oder?
Fast.
Diese Privilegienscham, die mir immer wieder ins Ohr flüsterte, ich soll doch dankbar sein für all das, statt auch noch in allen anderen Bereichen Gleichberechtigung und Gleichstellung zu fordern, hat mich fast davon abgehalten, meine Stimme zu nutzen.
Und dabei ist sie nicht nur wertvoll, sondern auch genau das, was den restlichen 99 % der Frauen wirklich helfen kann.
Nach all der Zeit, die ich mit Scham und Dankbarkeit in der Stille gesessen habe, stolperte ich durch einen Kurs zu Women’s Health & Human Rights über eine Stelle in einem Buch, in dem Amerikanerinnen benachteiligten Mädchen und jungen Frauen in Indien folgende Frage stellten, die auch mich im Grunde so lange getrieben hatte:
Wie können wir, als privilegierte Frauen, euch am besten helfen, mehr Gleichberechtigung, Sicherheit, bessere Versorgung und Gerechtigkeit zu bekommen?
Ihre Antwort zu lesen hat für mich alles verändert.
Im Kern sagten sie: Sorgt dafür, dass ihr selbst in eurem Land die absolute Gleichberechtigung und Gleichstellung bekommt, die euch zusteht. Denn jedes Land, das mit einem solch guten Beispiel vorangeht, können wir als Argument bei unserer Regierung anbringen, um die gleichen Rechte von unseren Politikern einzufordern.
Es geht also bei unserer Gleichberechtigung und Gleichstellung nicht nur darum, dass Ungerechtigkeiten in unserem Land ausgeglichen und ausgewogen werden. Es geht darum, ein hilfreiches Beispiel für andere zu sein.
Mir mag es arrogant und undankbar vorkommen, mich für gleiche Behandlung, gleiche Chancen und gleiche Rechte starkzumachen, wenn sie Themen wie „halbe Frauen-Portion“ in Kantinen betreffen (kannst Du in meinen Instastories-Highlights unter GESAGT. nachlesen), oder wie welche Formulierung frauenfeindlich ausgelegt werden kann. Aber mit solchen „Kleinigkeiten“ fängt alles in den Köpfen an.
Jemand, der meine Stimme nicht ernst nimmt, jemand, der mich nicht ernst nimmt, wenn es um die Portion meines Essens geht, für das ich den vollen Preis bezahlt habe, der sieht vielleicht auch den Wert seiner Ehefrau nicht oder nimmt ihre Stimme weniger ernst. Die seiner Tochter. Seiner Mutter.
Es gibt viele wichtige Themen, in denen auch in unserem Land noch viel getan werden muss. Es gibt Vergewaltigungen, sexuellen Missbrauch, häusliche Gewalt, ungerechte Bezahlung und noch viel zu viel unbezahlte Arbeit, die in Zukunft zu einer schweren Altersarmut besonders bei Frauen führen wird. Und in vielen Fällen schon jetzt dazu geführt hat.
Aber das bedeutet nicht, dass wir uns nicht auch für die kleinen Kämpfe einsetzen können. Denn sie sind der Ursprung von so vielem, was den Wert und die Stellung von Frauen in den Köpfen der Menschen bestimmt.
Also müssen wir aufhören, uns für unsere Privilegien zu schämen, und uns stattdessen für Gleichberechtigung und Gleichstellung auf jeder Ebene starkmachen – denn je besser wir in unserer privilegierten Blase dastehen? Desto besser zeigen wir den Frauen außerhalb davon, was alles möglich ist, wenn sie sich starkmachen und auf unser Beispiel zur Nachahmung zeigen können. Selbst wenn wir uns im Vergleich ein bisschen für das Level schämen, auf dem wir schon angekommen sind.
Wir müssen aufhören, darüber zu jammern, wie wenig uns andere Frauen unterstützen und sich gegenseitig Steine in den Weg legen, und stattdessen eine von den Frauen werden, die es anders machen.
Wir müssen aufhören, uns gegenseitig zu versichern, wie dankbar wir doch für alles sind, und den Mut haben, MEHR für uns einzufordern – nicht weil wir gierig sind, sondern weil es uns zusteht – genau wie jedem anderen.
Wir müssen aufhören, uns schuldig und schlecht für das zu fühlen, was wir schon erreicht haben, und uns mit genau diesen Privilegien stark für alle Frauen machen, die sie nicht haben.
Denn sich zu verstecken, gegeneinander zu piksen und zu neiden, aber doch bescheiden zu sein, brav Bitte und Danke zu sagen, dafür, dass wir schon ein bisschen gleicher sein dürfen als Frauen in so vielen anderen Ländern?
Macht uns nicht gleichberechtigt.
Liebe Carina
Ja, Ja und nochmal Ja zu diesem tollen Artikel! Ich bin stolz und dankbar, dass ich eine der Frauen bin, die es anders machen. Ich habe eine Abmachung mit mir selbst und die wartet nicht darauf, dass es jemand anderes für mich richtet, sondern fordert ein, dass ich mir vom Leben hole, was sich gut für mich anfühlt.
Das bedeutet auch, dass ich meine Schamgrenze regelmäßig überschreiten muss und dazu gehört auch die von dir so schön beschriebene Privilegienscham. (Übrigens ist das ein schönes Wort)
Viele denken: „ Aber Deutschland ist doch schon recht weit, was das Thema Gleichberechtigung und Feminismus angeht.” Wie weit wir wirklich sind, erfahren wir alle im täglichen Leben.
Wir brauchen einen gesunden, offenen, toleranten Feminismus, der ein gemeinsames Ziel verfolgt. Ich will mich nicht rechtfertigen müssen. Nicht vor Männern und auch nicht vor anderen Frauen.
Ich will meine Weiblichkeit mit all ihren Aspekten leben und auf die Barrikaden gehen, wenn mir Ungerechtigkeit begegnet. Mich für andere Frauen einsetzen, was nicht gleichbedeutend damit ist, dass ich Männer nicht respektiere oder gar ablehne oder hasse. Ich will offen, laut und immer meine Meinung sagen können. Ich bin eine Frau und das finde ich wundervoll.
Liebste Grüße Michi
Liebe Michi,
ich nicke bei all Deinen Worten. Und ich gehe noch weiter.
Ich will pink mögen dürfen UND sportlich gekleidet sein dürfen.
Ich will Frauen zujubeln, die im Anzug und Krawatte „männliche“ Stärke imitieren und die, die in Hot Pants auf der Bühne Coachella erobern.
Ich will, dass jede Frau so weiblich, so „männlich“, so androgyn oder so wechselhaft sein darf, wie. sie. will.
Weiblichkeit ist für mich nicht nur weiblich und weich. Weiblichkeit ist für mich das, was jede einzelne Frau für sich selbst definiert, was sie selbst ausmacht und wie sie sich selbst sieht.
All das und mehr. Alles und kein Stück weniger.
Wir sind auf dem Weg. Und wir haben noch ein gutes Stück vor uns.
Ich feiere hart, dass ich weiß, das Du und so viele andere, tolle, starke und schwache Frauen dabei neben mir und mit mir marschieren <3
Liebe Grüße zurück
Carina