Nein, nicht alle Männer. Aber ja, alle Frauen.

„Ihr Frauen habt es da leicht. Wir sind euch doch total unterworfen.“

Diesen Satz bekomme ich in der vierten Nachricht zugeschickt. Ich habe mich in einer App angemeldet, in der man digitale Brieffreundschaften knüpfen kann, und tausche mich dort seit ein paar Tagen mit Christian aus. Dass wir schon in der zweiten Nachricht auf Sex zu sprechen kommen (kleine Korrektur: dass er in der zweiten Nachricht schon auf Sex zu sprechen kommt), wundert mich nicht. Das ist völlig normal. Selbst auf einer Plattform, auf der es ganz klar nicht um Dating geht. Mich überraschen eher die Männer, die das nicht tun – die bekommen bei mir sofort das Sternchen verpasst und landen auf der Liste meiner besonderen Kontakte.

Christian wirkt aber trotzdem wie ein netter Kerl. Ein bisschen naiv und leicht ignorant vielleicht, wie er mir mit dieser Nachricht beweist, aber das an sich ist ja noch nicht grundsätzlich verwerflich.

Er weiß es einfach nicht besser.

Deshalb glaubt er auch, wir Frauen haben es leicht. Mit dem ersten Schritt und so. Wir müssen ja nur mal mit dem Finger schnipsen, und die Männer liegen uns zu Füßen. Zumindest wenn es darum geht, mal so einfach für eine Nacht ein bisschen Spaß zu haben.

Und weil Christian wie ein netter Kerl wirkt, mach ich mir die Mühe und spiel das Spiel mit.

„Stimmt“, antworte ich, „wir haben es da leicht. Lass mich Dir mal kurz erzählen, wie leicht wir es haben…“ 

Ich kann mich jederzeit auf einer der Tausenden von Apps und Dating-Webseiten anmelden und nach einem netten Kerl suchen. Nett sollte er schon sein, wenn auch nur für eine Nacht. Denn anders als viele Männer brauch ich mehr als rauf, runter, rein, raus, um in einer Nacht zum aaahhh und oooohhh zu kommen. (Sorry, kleiner Schenkelklopfer reingerutscht.)

Also filtere ich die Nachrichten, die da massenweise in mein Postfach ballern, zunächst mal danach, dass sie nicht nur aus „hi“ oder „wie geht’s“ bestehen. Kreative und charmante Nachrichteninhalte sind die Blumensträuße unserer Zeit. Leider realisieren das die wenigsten Männer.

Danach schau ich mir das Profil meines potenziellen One Night Stands an und suche nach Warnsignalen. Wenn mich jemand nur dann ansprechend findet, wenn ich gewisse Maße, unter einem gewissen Gewicht und bloß nicht mit feministischen Weisheiten daherkomme, dann fällt er durch das Raster.

Danach finde ich also zum Beispiel Paul, der nicht nur nett daherschreibt, nicht in der dritten Nachricht schon von Sex anfängt und meine feministische Ader ansprechend findet, sondern sich tatsächlich auch für mich als Mensch zu interessieren scheint. Gute Aussichten! Also schlag ich ihm ein erstes Treffen vor, nachdem wir uns ein paar Tage warmgechattet haben.

Irgendwo in der Öffentlichkeit sollte es sein und nicht unbedingt in einer dunklen Gasse oder gleich bei ihm zu Hause. Ich kenne ihn ja nicht, und er ist sehr wahrscheinlich deutlich größer und stärker als ich, was bei meinen 1,57m leicht zu erreichen ist. Am besten also in der Stadt, noch im Hellen, irgendwo auf einem öffentlichen Platz. Mit vielen Menschen und vielen Optionen, sich in eine gut besuchte Bar zu setzen oder durch die wuseligen Straßen zu spazieren.

Am Nachmittag vor meinem Treffen überlege ich mir, was ich anziehe. Die Farbe und das Muster meiner Klamotten sind dabei nicht so wichtig – wichtig ist, dass ich damit keine „falschen“ Signale sende. Keinen zu tiefen Ausschnitt, kein zu kurzes Kleid, nicht zu figurbetont. Könnte ja schließlich alles schreien: „Ich hab drum gebeten.“ Also trage ich ein lockeres T-Shirt, lange Jeans und nehme einen bequemen, aber hübschen Pulli mit.

Es kommt, wie es kommen soll. Wir landen nach einem Spaziergang auf der Terrasse am Fluss einer netten Bar. Nur ein paar Menschen sitzen dort, aber genug, um mich nicht unwohl zu fühlen. Er bestellt uns zwei Cider, und ich nippe an meinem. Nicht zu viel trinken! Ganz wichtig. Was ihn einfach nur in eine gute Stimmung bringt, könnte mich verwundbar und unaufmerksam machen.

Unser erstes Treffen verläuft richtig gut, sogar als er mich am Ende noch kurz mit in sein leeres, dunkles Büro mitten in der Stadt nimmt, um sein Fahrrad abzuholen, und scherzhaft sagt „Keine Angst, ich hab jetzt nicht vor Dich zu ermorden“ und ich nur halb mitlache.

Also schlage ich ihm am Ende des ersten Dates ein zweites vor. Wir treffen uns nachmittags im Park bei ihm um die Ecke. Mein Kleid ist dieses Mal etwas kürzer, aber nicht zu kurz und hat auch so gut wie keinen Ausschnitt. Die Gespräche bleiben locker, und ich sehe keine roten Warnsignale aufploppen, also bin ich entspannt, als er mich beim Spaziergang aus dem Park lotst, wir irgendwie ganz plötzlich fünf Minuten später an einer Kreuzung stehen, an der ich theoretisch nun auch die Straßenbahn zu mir nehmen könnte, und er mich fragt, ob ich noch kurz mit zu ihm komme. Er wohnt nur eine Straße weiter.

Ich hole tief Luft und kalkuliere innerlich. Es ist nachmittags. Es ist noch hell. Er wirkt wirklich nett. Und entscheide mich, mit ihm zu gehen, auch wenn ich meine Hab-Acht-Systeme zumindest in Bereitschaft schalte.

Seine Wohnung ist nett eingerichtet, sein Bett frisch bezogen (nein, ich habe keine Bakterien-Laser-Augen, das erwähnt er ganz nebenbei), und wir landen auf der gemütlichen Couch und unterhalten uns. Ich bin positiv nervös, aber nicht zu sehr besorgt. Es ist ein Gebäudekomplex mit dünnen Wänden, und würde ich in eine Notsituation kommen, würde mich sehr wahrscheinlich jemand hören. Etwas verstörend, dass ich ganz unbewusst auf so etwas achte, aber das ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, seit ich alt genug wurde, von verschleppten und vergewaltigten Frauen zu lesen.

Wir küssen uns zum Abschied. Und ich spüre deutlich, er wäre auch bereit für mehr, sagt aber nichts, als ich mich verabschiede und mich mit ihm für einen Netflix-Abend verabrede. Date Nummer drei, und ohne es auszusprechen, wissen wir eigentlich doch beide, was das im Allgemeinen bedeutet.

Dieses Mal sind meine Schutzreflexe schon deutlich gesenkt. Er hat mir in keiner Weise Anlass gegeben, ihm zu misstrauen oder zu vermuten, ich wäre bei ihm in Gefahr. Also kuscheln wir nach dem Abendessen beim Film auf der Couch und fangen danach wieder an, uns zu küssen. (Bonus-Punkte dafür, dass er das Ende des Films abgewartet hat!) Das T-Shirt fliegt weg, meine Hose als Nächstes, und als er mir wortwörtlich an die (Unter-)Wäsche will, mache ich innerlich einen Rückzieher. Ganz kurz frage ich mich, ob ich das wirklich will, und die Antwort fällt leider negativ aus. Es liegt nicht an ihm, sondern einfach daran, dass ich es für den Moment genieße, so wie es ist.

Jetzt laufe ich hier auf einem schmalen Grat: Es gibt drei Versionen, wie dieser Abend enden kann.

Tür Nummer 1: Ich kann aussprechen, dass ich keinen Sex will, und er akzeptiert es ohne Murren.

Tür Nummer 2: Ich kann aussprechen, dass ich keinen Sex will, und er verhandelt und diskutiert mit mir so lange, bis ich entweder nachgebe oder er mich frustriert und genervt darüber, wie wechselhaft Frauen sein können, dann nach Hause gehen lässt.

Tür Nummer 3: Ich kann aussprechen, dass ich keinen Sex will und dann… doch Sex haben. Ungewollt. Unfreiwillig. Ohne mein Einverständnis. Weil er größer und stärker ist als ich. Weil ich schließlich freiwillig mit ihm nach Hause bin. Weil mein Kleid zu kurz war. Mein Ausschnitt zu tief. Weil ich es doch herausgefordert habe. Weil ich beim Abendessen davor ein bisschen Alkohol getrunken habe. Weil einfach niemand glauben wird, dass es nicht meine Schuld war, dass wir Sex hatten. Und niemand da ist, der bezeugen kann, dass ich deutlich „Nein!“ gesagt habe.

Diese drei Möglichkeiten gibt es jedes Mal, wenn ich mich kurzfristig entscheide, keinen Sex zu haben. Ich habe Glück, und Paul ist einer der Männer, die nicht diskutieren, einfach weiter mit mir kuscheln und mir danach anbieten, mich nach Hause zu fahren.

Ich hatte nicht immer dieses Glück. Ich hatte zwar bisher das Glück, noch nie an Sorte Nummer 3 zu geraten, aber ich habe mir schon ganz offen sagen lassen müssen, dass mein Gegenüber dachte, die Sache wäre klar?!

Dass es doch jetzt keinen Unterschied mehr macht, nachdem schon alle Klamotten auf dem Boden liegen, ob er jetzt seinen Penis in mich steckt oder nicht. Dass er doch dachte, er hat alles richtig gemacht: mich beim allerersten Date zu ein bisschen Alkohol zu überreden, damit ich lockerer werde. Mich schon in der Bar zu küssen, danach mit zu sich nach Hause zu nehmen, weil da das Bett bereitsteht, das Kondom auf der Anrichte liegt und er schon direkt nach der Tür damit anfangen kann, meine störenden Kleider zu entfernen.

Er hat doch alles gemacht, um uns einen schönen, entspannten Abend zu machen, sagte mir da Tür Nummer 2 und ließ mich nur unter Murren und nicht, ohne noch ein zweites und drittes Mal zu versuchen, mich zu überzeugen, gehen. 

Weswegen ich jetzt erleichtert aufatme, als Paul sich als Tür Nummer 1 erweist und mich zu Hause absetzt. Sicher. Unbeschadet. Mit guten Erinnerungen statt der falschen, die ich immer zu verdrängen versuche, wenn ich mich mit einem fremden Mann treffe. Obwohl ich weiß, dass es da eben immer auch noch Tür Nummer 3 gibt. Durch die eine von drei Frauen in ihrem Leben gezwungen werden.

„Nein, nicht alle Männer sind Vergewaltiger.“

…schreibe ich jetzt Christian nach dieser wahren Geschichte.

„Aber ja, alle Frauen leben in der Gefahr, sexuell belästigt oder vergewaltigt zu werden, wenn sie einfach nur auf der Suche nach einem lockeren One Night Stand sind und niemand ihnen hinterher glauben wird, dass sie ihn nicht wollten. Also sag mir doch jetzt noch mal bitte, wie leicht wir es haben und dass ihr uns total unterworfen seid. Damit wir das Thema dann abhaken können.

Zumindest für heute.“

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Hi, ich bin Carina.

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4 Kommentare / Schreib einen Kommentar
  1. Einevonvielen

    Hallo Carina,
    Danke für diesen Blogbeitrag. Ich habe mich total darin gefunden und mich sehr verstanden gefühlt. Finde es extrem schade, dass die meisten Frauen sich so viele Gedanken machen müssen, wo man sich doch auch einfach mal nur fallen lassen will. Zum Glück gerate ich in letzter Zeit immer öfter an verständnisvolle und liebe Männer. Traurig, dass das für mich (und für dich vermutlich auch) schon ungewöhnlich und beruhigend ist, wenn es das absolute Minimum an gegenseitigem Respekt sein sollte. 
    Mit genug Aufklärung (vor allem von Jungs und Männern) kommen wir dem aber hoffentlich immer näher.

    Stark, dass du das teilst. Deine Bücher hab ich vor meiner Weltreise auch gelesen, die haben mir sehr geholfen.
    Schreib weiter 🙂 Alles Liebe dir!  

    • Carina Herrmann

      Danke Dir für die lieben Worte! <3

  2. Ela

    So wahr und Nummer 2 und 3 gibt es auch nicht nur bei ONS, sondern ganz oft (und irgendwie vermehrt) auch in Beziehungen, denn da “gehört es nun mal dazu” 🙄
    Was totaler Nonsens ist!

    Danke, dass Du hier so offen und ehrlich schreibst!

  3. Christine

    Wow!
    Hier lässt sich nichts mehr hinzufügen!
    Starke Worte. Und soooooo wahr.

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